Ich hab da mal ne Frage…
eigentlich tauchen täglich neue Fragen auf, sodaß ich kaum hinterher komme, die möglichen Antworten zu recherchieren.
Wieso „Hygiene“? was hat dein Anliegen mit Hygiene zu tun? Und daraus folgend; was ist eigentlich dein Anliegen? Da befinde ich mich schon wieder in meiner Fragenüberfragen Schiene.
Eigentlich beschäftige ich mich lieber mit klaren, nachvollziehbaren Informationen aus zugegebenermaßen, meines Vertrauens würdigen Quellen. Dort werden Unsicherheiten, Unabwägbarkeiten und Fakten dargelegt und jeder kann sich an einem möglichst sachlichen Diskurs beteiligen. Dabei sympathisiere ich durchaus mit Menschen, die Emotionen und Sachlichkeit zu trennen wissen und das Bedürfnis haben, sich differenziert mit den anstehenen Themen auseinanderzusetzen.
Nun gibt es dich, bzw. dich in einer gröhlenden Masse. Mich interessieren deine Gefühle und Bedürfnisse, aber bitte im Einzelgespräch, damit ich dir besser zuhören kann. Du musst dann auch gar nicht laut brüllen. Wie sieht dein Alltag aus, deine Beziehungen, deine Freundschaften…was sind deine „guten Gründe“ für deine momentane Wut und dein Bedürfnis, einen Schuldigen, bzw. eine grosse ungreifbare Weltverschwörung zu wittern? Ich hör dir zu ohne deiner Logik zu folgen. Mich interessiert, wie du dir deine Welt gestaltest oder gestalten möchtest.
Ich hatte mal eine junge Patientin, die wegen häufiger Bauchschmerzen zu mir in die Praxis kam. Ich testete, behandelte…kleine Verbesserungen waren nicht von Dauer. Sie ernährte sich hauptsächlich von Leberkäs Semmeln, Süßigkeiten und trank dazu Softdrinks (Kettenrauchen gehörte auch noch dazu). Ich wies sie mehrfach darauf hin, schrittweise ihre Gewohnheiten zu ändern. Softdrinks durch Wasser zu ersetzen und sich ein selbstgekochtes Mittagessen mit in die Arbeit zu nehmen. Das war ihr zu mühsam. Ok. Nach ca 2 Jahren kam Sie wieder, ihr Arzt hatte eine Sorbitolunverträglichkeit festgestellt. Keiner hätte sie je darauf hingewiesen, ihre Ernährung zu ändern. Sorbitol kommt in Wurstwaren und als Süß-und Konservierungsstoff in Softdrinks und vielen anderen, industriell hergestellten Lebensmitteln vor.
Ein andermal kam eine Patientin mit einem großflächigen Ausschlag mit eitrig gefüllten Bläschen zu mir in die Praxis. Ich testete einen Zusammenhang von Ausschlag und Klebstoff des Tapeverbandes den sie wegen Nackenschmerzen von ihrer Physiotherapeutin bekommen hatte, aus. Nach meiner Behandlung wies ich sie eindrücklich darauf hin, dass sie nach 2-3 Tagen unbedingt zum Hautarzt gehen solle, falls keine Verbesserung eintritt. Ich traf sie zufällig einige Monate später wieder. Sie machte mir zum Vorwurf, dass sie nach 2 Wochen mit beginnender Sepsis ins Krankenhaus musste. Meinen dringenden Rat nach 2 Tagen eine Arzt aufzusuchen, hatte sie ignoriert.
Es scheint wohl ein menschlicher Reflex zu sein, einen „Schuldigen“ zu finden. Es erleichtert.
Mein Anliegen wäre, eine Kommunikation zu ermöglichen bei der es nicht um Schuld und Unschuld, richtig und falsch oder sonstige, nicht zielführende Bewertungen geht. Zuhören, verstehen, Lösungen suchen und bestenfalls finden führt möglicherweise zu konstruktivem Handeln.
Ich bin mir ziemlich sicher, lieber Hygienedemonstrant, dass du für dein Anliegen nach Sicherheit und Freiheit (was auch immer du darunter verstehst) Möglichkeiten findest, dich sinnvoll und lösungsorientiert einzubringen. Das wäre zumindest mein persönlicher Wunsch.
Auszug aus der nzz 16.5.2020
…“ Das «posthistorische Tier» hält sich an ein Axiom, das sich auf alle Lebensbereiche erstreckt: Was man hat, das hat man auf sicher. Es denkt in Kategorien von Recht und Anspruch und fürchtet Risiken aller Art, die es im Übrigen durch Versicherungen aus der Welt schaffen zu können glaubt. Den komfortablen, abgesicherten Status quo misst das «posthistorische Tier» stets an einem vorgestellten Idealzustand – was gesellschaftlich zu jenen Paradoxen führt, die uns allen bis zum Überdruss bekannt sind: je egalitärer die Gesellschaft, desto grösser ist die Ungleichheitsobsession; je grösser der objektive Wohlstand, desto geringer das subjektive Wohlbefinden. Zahlreiche gesellschaftliche Pseudodebatten fanden vor diesem Hintergrund statt.“…